Profilanalyse für den Zweitspracherwerb

Tulpe L2
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Das Verfahren der Profilanalyse der syntaktischen Progression im Zweitspracherwerb geht auf Manfred Pienemann (1981) zurück. Er konnte bei italienischen Grundschulkindern empirisch 6 Stufen beim Erwerb der deutschen Satzstruktur ermitteln, die in einer festen Reihenfolge durchlaufen werden. Dieses Ergebnis konnte er 1983 bei einer Untersuchung des Lernprozesses von italienischen Gastarbeitern (ZISA 1983) bestätigen.

Die Notwendigkeit für die Erhebung der Sytaxprogression bei Kindern mit Migrationshintergrund begründet sich auf den Ergebnissen, die Pienemman 1986 in einer Studie ermitteln konnte, in der er den Einfluss gezielter Sprachförderung auf die Erwerbssequenzen untersuchte. Es konnte klar gezeigt werden, dass die Förderung von syntaktischen Strukturen, die eine Profilstufe über der bereits erreichten angesiedelt sind, zu einem deutlich schnelleren Erreichen dieser Stufe führt, wohingegen die Sprachentwicklung in der Zweitsprache verlangsamt und sogar stagnieren kann, wenn die Übungen Bereiche fokussieren, die mehr als eine Stufe über der bereits erreichten Stufe eines Kindes liegen.

Wilhelm Grießhaber vereinfacht die Analyse der Erwerbssequenz bzw. reduziert die sechs von Pienemann gefundenen auf vier:

  1. Die erste Stufe enthält Äußerungen die der Wortstellung im einfachen deutschen Hauptsatz mit Subjekt-Verb-Objekt-Reihung entspricht.
  2. Bei der zweiten Stufe wird die für das Deutsche sehr charakteristische Trennung von finitem Verb und infiniten Verbteilen erworben. Damit sind eine Vielzahl differenzierter Aussagen möglich: Modifizierung einer äußerung nach der Modalität (mit Modalverben) oder der Nichtaktualität (Hilfsverb zur Perfektbildung) und schließlich die schon von Mark Twain anschaulich geschilderte und beklagte Trennung von Verbstamm und abgetrennter Vorsilbe, die notwendig wird, wenn man Aktionen mit trennbaren Vorsilben differenzierter und genauer ausdrücken will. Die deutsche Wortstellung verlangt vom Sprecher (und vom Hörer), dass er Informationen trennt, die eigentlich zusammengehören (z.B. Hilfsverb und Vollverb beim Perfekt) und die in den meisten Sprachen auch in Kontaktstellung realisiert werden. Der Sprecher muß also diese kompakte Information in mehrere Wörter aufteilen und dann zwischen die gespreizten Wörter Informationen packen, die ‘logisch’ erst nach dem kompakten Prädikat folgen. Damit diese Operation beim freien Sprechen funktioniert, müssen vorher schon ele-mentare Operationen erworben und automatisiert worden sein.
  3. Bei der dritten Stufe werden nach vorangestellten Adverbialen Verb und Subjekt vertauscht. Dies ist ebenfalls eine Eigentümlichkeit des Deutschen. Die Voranstellung eröffnet dem Sprecher mit der Frontierung von Informationen am Satzanfang neue expressive Ausdrucksmöglichkeiten. Bei kindlichen Erzählungen ermöglicht sie die einfache Verkettung von einzelnen Aussagen zu einer zusammengehörenden Folge (erst später werden auch andere Mittel der Verkettung erworben). Die grammatisch bedingte Inversion von Subjekt und Finitum stellt ebenfalls eine änderung der kanonischen Abfolge von äußerungseinheiten dar. Ein Verstoß wird von deutschen Muttersprachlern sehr sensibel als Fehler registriert. Mit der Voranstellung von Adverbialen verschiebt sich der Fokus auf das dem Verb folgende Subjekt, das bei normaler Stellung unbetont bliebe. Offensichtlich wird diese Stellungsvertauschung erst dann erworben, wenn vorher schon die Trennung des Prädikats in verschiedene Wörter erworben wurde.
  4. Bei der vierten Stufe wird schließlich die Nebensatzstellung mit Endstellung des Finitums erworben. Auch diese Wortstellungsregel mit der Variation des Finitums je nach Status des Satzes stellt eine deutsche Besonderheit dar. Hier erwirbt der Lerner die ganze Fülle differenzierter Ausdrucksmöglichkeiten, die ihm Nebensätze eröffnen. Dabei muß er lernen, dass nach subordinierenden Konjunktionen (dass, wenn, …) das Finitum an das äußerungsende rückt. Auch dies stellt wieder hohe Ansprüche an die mentale Planung. Die kanonische Abfolge von Aktor, Aktion (Verb) und Objekt wird grundlegend geändert. Dabei muß schon bei der Planbildung der äußerung die Art der Aktion (des Verbs) irgendwie angelegt sein, doch mit ihrer Realisierung muß gewartet werden, bis das von der Aktion logisch betroffene Objekt schon versprachlicht ist. Diese Operation wird offensichtlich erst dann erworben, wenn schon die Vertauschung von Subjekt und Finitum beherrscht wird.

Diese Regeln operieren unabhängig davon, ob die sprachliche Form der Wörter den grammatischen Regeln entspricht. Auffällige Formfehler, die man im Gespräch und an Texten sofort als Regelverstoß wahrnimmt, versperren den Blick auf die tieferliegenden Regelmäßigkeiten. Die Lerner müssen im Erwerbsprozeß offenbar über Fehler gehen. Auch im Mutterspracherwerb machen Kinder viele Fehler, sie regularisieren z.B. unregelmäßige Verben (gehte statt ging). Dennoch käme niemand auf die Idee, daraus zu schließen, dass sie ihre Muttersprache nicht lernen. Bei Zweitsprachlernern ist aber festzustellen, dass bei vielen der Erwerbsprozeß schon in frühen Stufen einfriert, fossilisiert. Sie haben sich u. U. ein Repertoire an Redewendungen angeeignet, das zur Befriedigung ihrer kommunikativen Bedürfnisse genügt. Damit sie Fortschritte machen, müssen wohl vor allem ihre kommunikativen Bedürfnisse geweckt werden.